Dieser interessante Fall aus unserer Praxis, der beim Amtsgericht München verhandelt und entschieden wurde, ist ihm eine Pressemitteilung (vom 11.1.2019) wert:
Das Amtsgericht gab durch Urteil vom 8.8.2018 – Az. 154 C 20100/17 – dem Klageantrag der 54jährigen Radfahrerin aus Grasbrunn bei München gegen die mit Räum- und Streupflichten befasste beklagte Einzelunternehmerin aus Vaterstetten bei München auf Zahlung von Schmerzensgeld in Höhe von 3.000 € und Feststellung der Verpflichtung der Klägerin, auch alle künftigen Schäden aus dem Schadensereignis vom 3.3.2015 ersetzen zu müssen, statt.
Die Klägerin fuhr damals gegen 08:00 Uhr mit ihrem Fahrrad zum Einkaufen zu einem Supermarkt in Neukeferloh und stürzte unmittelbar vor dessen Radstellplatz. Die Mindest-tagestemperatur betrug in München (Stadt) 0,4 Grad Celsius. Die Klägerin erlitt eine Fraktur des rechten Mittelfingers mit Kapselanriss. Nach sechswöchiger Ruhigstellung wurden 50 ergo-therapeutische Behandlungen verordnet. Die Funktionsfähigkeit des Mittelfingers blieb dennoch um 3/10 beeinträchtigt, die der beiden Nachbarfinger um jeweils 1/10. Die Klägerin hat noch Schwierigkeiten beim Öffnen von Flaschen oder beim Händedruck und kann die fragliche Hand noch nicht wieder zur Faust ballen. Die weitere Entwicklung ist ungewiss.
Dem Prozess vorausgegangen war eine umfangreiche Korrespondenz, welche die Klage-erhebung bis 2017 verzögerte. Der Versicherer des Betreibers des Geschäfts teilte mit, dass die Verkehrssicherungspflicht bei dessen Vermieter verblieben sei; sodann verwies der Versicherer der Grundstücksverwaltung darauf, dass der Winterdienst der sodann Beklagten vertraglich überantwortet worden sei; deren Versicherung wiederum lehnte eine Regulierung ab.
Die Klägerin bestätigt, dass Straßen und Wege im Wesentlichen frei von Schnee und sonstigen Beeinträchtigungen gewesen seien. Es habe jedoch am Vortag geregnet und sei über Nacht sehr kalt gewesen, weshalb die Klägerin vorsichtig gefahren sei. Bei der Anfahrt des Fahrrad-stellplatzes in der Nähe des Eingangs des Supermarktes (der im Schatten lag) sei sie auf eine nicht erkennbare ca. drei mal drei Meter große Fläche überfrorener Nässe geraten. Es sei nicht gestreut gewesen. Hierdurch sei das Fahrrad der Klägerin weggerutscht und die Klägerin auf die Hand gestürzt.
Der Versicherung hatte die Beklagte mitgeteilt, dass das Unternehmen den Parkplatz an jenem Morgen nicht geräumt oder gestreut hätte. Man sei von der Gemeindeverwaltung, für die man ebenfalls Räum- und Streudienste ausführe, nicht zum Einsatz gerufen worden, da Parkplätze und Wege frei von Schnee und Glatteis und am Boden noch genügend Splitt vorhanden gewesen seien.
Anders als auch noch in der ersten Verhandlung am 5.2.2018 erklärte der Ehemann der Beklagten, der als ihr Vertreter auftrat, am 7.5.2018 dann überraschend, vor wenigen Monaten erfahren zu haben, dass doch ein Mitarbeiter morgens um 5 Uhr vor Ort kontrolliert habe, worüber es aber keine schriftliche Dokumentation gebe. Jener konnte sich bei seiner Ver-nehmung am 24.7.2018 (also im 3. Termin) zwar nicht mehr an eine Kontrolle am fraglichen Tag erinnern. Er erklärte, wie seine Arbeitgeberin wisse, eigentlich immer frühmorgens kontrolliert zu haben. Ein unabhängiger Zeuge, der Ersthelfer war, hatte – nachdem er vom o.g. Beklagtenvertreter besucht worden war – nun Erinnerungslücken. Nach eindringlicher Befragung sagte der Vertreter dann am Ende der Sitzung, man sei an jenem Tag doch nicht hingefahren, weil kein Schnee gelegen habe und es nicht glatt gewesen sei.
Die zuständige Richterin am Amtsgericht München begründet ihr Urteil u.a. wie folgt:
„Eine Rechtsgutsverletzung liegt durch die unstreitigen Verletzungen der Klägerin an dem rechten Mittelfinger vor. Diese ist durch die fahrlässige Verletzung der Verkehrssicherungs-pflicht der Beklagten entstanden. Die Verkehrssicherungspflicht, insbesondere der Winterdienst wurde unstreitig auf die Beklagte übertragen. Ihrer Verkehrssicherungspflicht ist die Beklagte nicht ausreichend nachgekommen. (…) In der Gesamtschau der glaubhaften Angaben der Klägerin, die die Beklagte nicht widerlegt hat, und der allgemeinen Mindesttemperatur in München von nur knapp über dem Gefrierpunkt, ist das Gericht somit zur Überzeugung gelangt, dass zum streitgegenständlichen Zeitpunkt an der streitgegenständlichen Stelle eine Glätte durch überfrierende Nässe vorlag.“ Ebenso sei das Gericht angesichts der glaubhaften Angaben der Klägerin und der widersprüchlichen Angaben der Beklagtenpartei davon überzeugt, dass am fraglichen Morgen nicht kontrolliert worden sei. „Die Beklagte wäre jedoch verpflichtet gewesen, an diesem Tag eine Kontrolle an dieser Stelle durchzuführen und bei Feststellung der Glättestelle zu streuen. Es handelt sich um ein Datum Anfang März. Zu dieser Zeit ist allgemein der Winter in München und Umgebung noch nicht vorbei. Es kann zu Schnee und Eisglätte kommen. Bei der konkreten Temperatur an diesem Tag war auch nicht von vornherein ausgeschlossen, dass es an einzelnen Stellen glatt sein kann. (…)“ Die Beklagte, die den Winterdienst gewerblich ausübe, unterliege im Vergleich mit privaten Anliegern schließlich auch erhöhten Sorgfaltspflichten.
Anspruchsgrundlage ist § 823 Abs. 1 BGB: Schmerzensgeld nach § 253 Abs. 2 BGB, zudem Feststellungsinteresse nach § 256 ZPO. Die Kontrolle aller betreuten Flächen war auch zumutbar, weil gewerbliche Unternehmung. Es liegt auch kein Fall einer vereinzelten Glättestelle vergleichbar zur Entscheidung des BGH vom 12.6.2012 vor (Az. VI ZR 138/11 zu einer 20×30 cm kleinen Fläche), die von der Beklagten gleichwohl bemüht worden war.
Das hielt die Beklagte dann aber nicht von der Berufung ab. Seitens des Landgerichts München I erging daraufhin am 22.11.2018 zum Az. 14 S 12152/18 ein umfassender Hinweisbeschluss:
Der Prüfungsumfang des Berufungsgerichts bemisst sich nach § 529 ZPO. Demnach hat das AG der Klage zu Recht stattgegeben. Gemäß § 286 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses der Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht für wahr zu erachten sei. Unter Beachtung der Denk- und Naturgesetze, Erfahrungssätze und der ge-setzlichen Beweisregeln (hier vor allem zur Parteianhörung nach § 141 Abs. 3 ZPO) hat der Richter im Verlauf des Rechtsstreits gewonnene Erkenntnisse nach seiner individuellen Einschätzung zu bewerten und muss dabei so nach der Wahrheit streben, dass er zu einer Gewissheit gelangt, die Zweifeln Schweigen gebietet (das ist freilich ständige Rechtsprechung, etwa BGH vom 3.6.2008 – VI ZR 235/07). Anzumerken ist, dass einem Richter (wie auch dem betreffenden Anwalt, der für seinen Mandanten dem Recht zur Geltung verhelfen will) dieser Vorgang erschwert wird, wenn die Gegenseite ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände nicht vollständig und der Wahrheit gemäß abgibt, wie es aber § 138 Abs. 1 ZPO gebietet. Die amtsgerichtliche Beweiswürdigung genügte hier den Anforderungen jedenfalls uneingeschränkt. Der Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens in der Berufungsbegründung war präkludiert (§§ 529 Abs. 1 Nr. 2, 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO) und der Darlegungs- und Beweislast für ein angebliches Mitverschulden der Klägerin (§ 254 BGB) wurde auch nicht genügt, zumal die Klägerin nachvollziehbar angegeben hatte, dass die überfrierende Nässe für sie nicht ersichtlich war.
Daraufhin wurde die Berufung zurückgenommen, das Urteil des AG rechtskräftig und kommt die Klägerin nun endlich zu ihrem Geld.